Arnold Kruse (Neapel, Federico II): Grenzidentitäten in Südtirol. Zum literarischen Werk von Josef Zoderer
Grenzidentitäten in den Südtirolromanen von Joseph Zoderer stellen sich zuerst als Dekonstruktion der vom Nationalismus diktierten Identitäten und Grenzen dar. An den grotesken Folgen der ›Option‹ als der vom deutschen und italienischen Faschismus entworfenen typisch nationalistischen Lösung des ›Südtirolproblems‹ spiegelt sich das Scheitern der Nationalismen ebenso wie etwa am Beispiel der Schweiz Elemente seiner Identitätskonstruktion offengelegt und ad absurdum geführt werden oder am Beispiel eines Südtiroler Bergdorfes die innere Entleerung der nationalistischen Gemeinschaftskonzeption aufgedeckt wird. Mit der Dekonstruktion nationalstaatlicher Identitäten schwindet die Legitimation ihrer Grenzen. Mag im Gegenzug der einfache Sprung in die Alterität – hier des Italienischen – zunächst als Befreiung vom Zwang des Nationalismus und als Erweiterung der Subjekts erscheinen, so verdeckt er aber doch tieferliegende Grenzen auf ethnisch-kultureller Ebene und mag so das Wiedererwachsen des Nationalismus in der Latenz fördern. Verlangt wird hingegen über alle multikulturelle Ideologie hinaus eine komplexe ständige interkulturelle Auseinandersetzung, die als Identitätsbildungsebene vor allem auch alle Bereiche der Sinnlichkeit und Körperlichkeit miteinbezieht und dabei im Spiel und Gegenspiel von Identitätskonstruktion und Andersheit sich der Unabdingbarkeit von – verschieb- und vermittelbaren – Grenzen bewusst wird. Das bedeutet auch die Entwicklung von Formen der ›Erziehung der Sinnlichkeit‹ und des Umgangs mit nicht mehr zugänglicher Andersheit, wie beispielsweise die Begründung der Unbegreifbarkeit der Andersheit in der Beschränktheit des Eigenen oder der Entwurf paradoxer Formen des Verhältnisses von Eigenheit und Andersheit.
Daniela Allocca (Neapel, L’Orientale): Vorläufige Kartographien. Die nomadische Wahrnehmung von Grenzen bei Marica Bodrožić
Marica Bodrožić, 1973 in Svib/Dalmatien im heutigen Kroatien geboren, lebt seit 1983 in Deutschland. Sie ist jedoch eine Schriftstellerin ›ohne festen Wohnsitz‹; ihr Schreiben ist von den Erfahrungen der Entwurzelung und der Trennung geprägt. Insbesondere tauchen die Geschichten des Kriegs im ehemaligen Jugoslawien in ihrem Werk immer wieder auf. Ihre literarischen Kartographien sind vorläufig, insofern sie vorläufige Grenzen in Bewegung setzen. Die Kriegserinnerungen sind hier als das Peripherische, das Grenzziehende, das zur Grenze Drängende zu verstehen, das die Schriftstellerin in ihren Texten durch den Entwurf entsprechender Kartographien wiederholt thematisiert. Diese Kartographien werden von der Verf. mit Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne assoziiert und als eine Nomadisierung der Grenzen im Sinne von Deleuze/Guattari und Braidotti) gelesen: Indem Bodrožić das ›Gekerbte‹ ins ›Glatte‹ verwandelt, verwandelt sie die Kartographien der Macht in Kartographien der »Relation« (Glissant).
Torsten König (TU Dresden): »Nel mare ci sono i coccodrilli« – Die klandestine Mittelmeermigration in der italienischen Gegenwartsliteratur
Die europäische Vorstellung des Mittelmeeres als eines Verbindungs- und Kommunikationsraumes, wie sie noch Mitte des 20. Jahrhunderts durch Fernand Braudel prominent artikuliert werden konnte, konkurriert seit dem Ende des Jahrhunderts mit der eines harten Grenzraumes, der Europa von Nordafrika trennt. Das Denormalisierungspotenzial, das diesem Raum innewohnt, verdichtet sich im Bild des Flüchtlingsbootes, das mit Migranten übervoll beladen entweder die Ufer von Lampedusa, Alecante oder Kreta mit Not und unter Opfern erreicht oder vollständig im Meer versinkt. Eine Bedrohung der Normalität (J. Link) geht von dem Raum und seinen Akteuren aus, weil die mit ihm verbundenen Zumutungen für die Flüchtlinge – der drohende Tod durch Schiffbruch oder Verdursten – und für die Europäer – die, zumindest in der medialen Vermittlung, als »Strom« wahrgenommene Masse der Flüchtlinge – nicht durch humanitäre und rechtliche Ordnungsstrukturen eingehegt werden können. (S. Klepp) Die Passage der Seegrenze lässt die Migranten nicht nur juristisch zu Illegalen werden, sie entledigt ihre Existenz jeglicher juristisch begründeter Individualität und reduziert ihr Dasein auf ihr nacktes Leben, macht sie also der Figur des homo sacer vergleichbar, die durch Giorgio Agamben populär wurde. Als entindividualisierte Masse entwickeln sie im europäischen Imaginären ihr Bedrohungspotenzial. Die kollektive Wahrnehmung der südlichen Seegrenze Europas scheint neben der explizit referentiell agierenden Berichterstattung in den Nachrichten durch eine spezielle mediale und narrative Form geprägt – die Dokufiktion. Auffällig häufig findet sich die Thematik der klandestinen Migration über das Mittelmeer in Form von fiktionalen Narrationen – im literarischen Text und im Film – verarbeitet. Diese Fiktionen affichieren allerdings durch emplotments (H. White) von stark referentialisierenden Elementen – Tatsachenberichte realer Schicksale von nichtfiktiven Personen, Kontextualisierung von historischen Ereignissen wie z.B. tatsächlichen Flüchtlingskatastrophen, Bezugnahme auf nichtfiktive Institutionen oder Diskurse wie Gesetzestexte und Medienberichterstattung – ihre Rückbindung an die reale Realität. Der Beitrag untersucht dieses Phänomen am Beispiel von vier jüngeren italienischen Romanen: Fabio Geda, Nel mare ci sono i coccodrilli. Storia vera di Enaiatollah Akbari (2010), Alessandro Leogrande, Il Naufragio. Morte nel mediterraneo (2011), Fabio Geda, L’estate alla fine del secolo (2011), Giuseppe Catozzella, Non dirmi che hai paura (2014). Intermedial ergänzt werden die Lektüren durch Einbeziehung von zwei einschlägigen Filmen: Harragas (2009) des französisch-algerischen Regisseurs Merzak Allouache sowie Mare Deserto (2012) von Emiliano Bos und Paul Nicol. Auf der Grundlage der Analyse von Erzählstrukturen, Topoi und Narrativen in den genannten Texten und Filmen soll nach der Funktion gefragt werden, welche die durch Verflechtung von faktualen und fiktiven Elementen geprägten Erzählungen für die Erzählgemeinschaft (W. Müller-Funk) haben. Die Erzählungen zeigen, so die zu prüfende These, dass die Seegrenze des Mittelmeeres nicht nur im engeren, tragischen Sinn ein Risikoraum für die illegalen Migranten ist, sondern dass er von der europäischen Erzählgemeinschaft (vor dem Hintergrund von Denormalisierungsängsten) mit Blick auf eigene Befindlichkeiten und Interessen als solcher wahrgenommen wird.